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Pudgalavada

- ein Buddhismus mit Seele

Pudgalavada , hergeleitet vom Sanskritwort pudgala, das heißt  Persönlichkeit, bezeichnet eine heute kaum noch bekannte, aber im alten Indien sehr einflussreiche  Lehre im Buddhismus. (1)

Die Pudgalavadins oder - wie sie nach ihrem Begründer Vatsiputra auch genannt werden - Vatsiputiyas vertraten zu der im Buddhismus zentralen Anattalehre eine Auffassung, die vom Theravada-Buddhismus entschieden abgelehnt wurde und wohl noch immer abgelehnt wird.

Entgegen der weithin vorherrschenden, im Grunde nihilistischen Interpretation des Anatta-Dogmas der Theravadins waren die Pudgalavadins der Überzeugung, dass “das Individuum in irgendeiner Weise existiert”. (2)

Laut Helmuth von Glasenapp lag in der Lehre der Pudgalavadins der Versuch vor, “die entthronte Seele in dieser oder jener Weise in das dogmatische System einzuführen und eine Erklärung dafür zu bieten, wieso das Individuelle an einer Persönlichkeit konstant bleibt, während sein Leib, seine Vorstellungen usw. unaufhörlichem Wechsel unterworfen sind”. (3) Darüber hinaus lässt sich diese Lehre der Pudgalavadins mit der buddhistischen Vorstellung von Karma und Wiedergeburt viel überzeugender vereinbaren als mit der Anatta-Lehre der Theravadins. 

Zu den erheblichen Schwierigkeiten, die mit der Anattalehre des Theravada-Buddhismus verbunden sind, schrieb Edward Conze in seinem Buch Der Buddhismus:

Die Anattalehre hatte behauptet, es gäbe tatsächlich kein individuelles Selbst, kein beständiges Ego, das die selbst-genügsame Einheit eines Individuums erklären könnte. Was uns als ein Individuum erscheint, ist in Wahrheit eine Reihe kurzlebiger Skandhas [Daseinsfaktoren(4)], die ständig, von Augenblick zu Augenblick, aufeinander folgen ...

Mit unserem gesunden Menschenverstand beobachten wir, daß wir uns wesentlich besser an unsere eigenen inneren Erfahrungen erinnern können als an die anderer, daß wir uns in der Tat an die Erfahrungen anderer überhaupt nicht erinnern können. Es bleibt auch die Lehre vom Karma, derzufolge wir die Früchte unserer eigenen Taten ernten, aber für die Taten anderer weder bestraft noch belohnt werden.

Es bleibt auch die Beobachtung, daß manche unserer früheren Erfahrungen eine Zeitlang in einem Unbewußten aufgespeichert bleiben und später unsere Handlungen beeinflussen.

Die Illusion einer Individualität mag aus dem Begehren stammen, sie wird aber durch die tägliche Beobachtung kräftig unterstützt. Allerdings könnte man das alles beiseite schieben und den Zweifler auf das Nirwana verweisen, in dem diese Beobachtungen sicherlich in sehr verschiedenem Licht erscheinen würden.

Für alle diejenigen aber, die noch nicht bis zum Nirwana gelangt sind, muß der Glaube an eine Individualität so naheliegend erscheinen, daß sie das Vorhandensein einer objektiven Grundlage dafür als sicher annehmen. Dies war die schwächste Stelle der buddhistischen Ausrüstung, und das Problem hat die buddhistischen Theoretiker zu allen Zeiten beunruhigt.

Der ketzerische Glaube an ein Selbst drang sogar in die Reihen des Ordens selbst ein. Die Anhänger einer der 18 traditionellen Sekten - die Sammitiyas - waren bekannt unter dem Namen der Pudgala-vadins, Derer, die an die Person glauben. Sie versuchten, eine Art von Glauben an ein Selbst oder an eine Seele aufrechtzuerhalten, ohne sich doch wirklich dazu zu bekennen. Sie sprachen von einem undefinierbaren Prinzip mit dem Namen pudgala, d. h. „Person“, das weder verschieden noch nicht-verschieden ist von den fünf Skandhas.

Dieses Prinzip bleibt während der verschiedenen Wiedergeburten wirksam bis zur Erreichung des Nirwana. Es liegt etwa in der Mitte zwischen unserem wahren und unserem empirischen Selbst. Es erklärt auf der einen Seite unser Gefühl einer persönlichen Identität (wie das empirische Selbst) und bleibt andrerseits bis ins Nirwana bestehen (wie das wahre Selbst). Dies wurde unter all den strittigen Punkten als der bedeutsamste angesehen.

Im Laufe der Jahrhunderte wurden die Orthodoxen niemals müde, ein Argument auf das andere zu türmen, um dieses Zugeständnis eines Selbst durch die Pudgalavadins aus dem Felde zu schlagen. Aber je hartnäckiger man versucht, etwas aus dem eigenen Kopf oder aus einem Denksystem fernzuhalten, mit um so größerer Sicherheit wird es durch eine Hintertür wieder hereinkommen.

Schließlich sahen sich die Orthodoxen gezwungen, die Vorstellung eines dauernden Ego anzuerkennen; sie taten das zwar niemals offen, sondern verhüllten dieses Zugeständnis und versteckten es in besonders dunklen und unverständlichen Formulierungen, wie z. B. dem unterbewußten Lebenskontinuum (bhavanga) der Theravadins ... “ (5)

Die Gründe für das Erlöschen des ehemals sehr bedeutsamen Pudgalavada-Buddhismus lagen wohl weniger in den Besonderheiten ihrer Lehre als vielmehr in äußeren Umständen, denn in einem von der Altbuddhistischen Gemeinde zur Einführung in die Lehre des Buddha herausgegebenen Buch heißt es:

“In Indien, der Wiege der Buddha-Lehre, standen, nach dem Zeugnis des bekannten chinesischen Pilgers Hiouen Thsang, noch in den Jahren 619 bis 645 die Klöster der Pudgalavadins, einer der ältesten und bedeutendsten buddhistischen Schulen Indiens, in hoher Blüte. Die Zahl ihrer Anhänger wurde auf 43000 geschätzt ... Ihre Hauptzentren, die im Westen lagen, fielen wegen dieser Lage allerdings am ehesten dem Ansturm und der Zerstörung der Moslems zum Opfer, wobei als kostbarster Schatz auch die heiligen Schriften mitvernichtet wurden. Damit aber wurde ein neuerliches Aufblühen dieser altindisch-buddhistischen Schule unmöglich.” (6)

Auch in der Vorrede in dem für die Altbuddhistische Gemeinde grundlegenden Werk Die Lehre des Buddho wird im gleichen Sinne auf die Pudgalavadins hingewiesen, da die Altbuddhistische Gemeinde wie die Pudgalavadins eine nihilistische Deutung der Anattalehre  ablehnte. (7)

Im übrigen könnte ein nihilistisches Verständnis auch zu anderen großen Schwierigkeiten in der Verwirklichung der Buddhalehre führen: Für den buddhistischen Lebensweg ist das Bemühen um die Entfaltung von allumfassender Güte (metta) und Mitleid (karuna) mit allen leidenden Wesen von größter Wichtigkeit.  Wie aber sollen diese edlen Gefühle in einem Menschen erweckt werden, wenn dieser aufgrund seines nihilistischen Verständnisses der Anattalehre etwa meint, es gäbe zwar das Leiden, aber keinen Leidenden? Mitleid kann doch wohl nur entstehen, wenn das Leiden ein Wesen betrifft, das mehr ist als lediglich eine bloße Anhäufung von Daseinsfaktoren (skandas)! Das gilt auch für solche Gefühle wie Güte und Liebe, weil diese nur gegenüber Personen und nicht zu irgendwelchen unpersönlichen Kräften empfunden werden können.

War nun der Pudgalavada-Buddhismus ein Buddhismus mit Seele? In dem bereits erwähnten, von der Altbuddhistischen Gemeinde herausgegebenen Buch zur Einführung in die Lehre des Buddha wird der deutsche Mystiker Meister Eckhart mit den Worten zitiert:

“Kein Ding ist der Seele so unbekannt wie sie sich selbst. Darum hat sie nichts, womit sie sich erkennen könnte. Daher weiß sie alles andere, nur sich selber nicht. Von keinem Ding weiß sie so wenig, wie von sich selbst.” (8)

Was nicht erkennbar ist,  kann mit völliger Sicherheit weder bejaht noch verneint werden. Deshalb geht es bei der Frage nach der Existenz einer Seele um eine des Glaubens und nicht des Wissens. Die Pudgalavadins glaubten  an etwas, das sich wohl als Seele bezeichnen lässt, und zwar trotz der buddhistischen Anattalehre.

Schon wegen der oben dargestellten Zusammenhänge ist es bemerkenswert, dass die Altbuddhistische Gemeinde  auf die Pudgalavadins im zustimmenden Sinne hingewiesen hatte. Mit ihrer nichtnihilistischen Deutung der buddhistischen Anattalehre kam die Gemeinde, dem Pudgalavada-Buddhismus ziemlich nahe, wobei es gleichgültig ist, ob dabei der Begriff Seele verwendet wurde. Die Altbuddhistische Gemeinde wurde leider 2002 aufgelöst, besteht jedoch in ihren Schriften fort. Insofern ist auch der positive Kerngedanke der Pudgalavavadins trotz ihres Erlöschens nicht untergegangen.


Nachwort des Verfassers (H.B.):
Nachdem ich  den obigen Beitrag  beendet hatte, schaute ich auf die Website der Deutschen Buddhistischen Union (DBU), die sich als “Dachverband der Buddhistinnen und Buddhisten in Deutschland” versteht. Dort las ich zu meiner Überraschung eine Ankündigung  für den 17. Oktober 2022 unter dem Titel “Einführung in die buddhistische Seelsorge”.   Buddhistische Seelsorge? Setzt das nicht die Existenz einer “Seele” voraus? Wenn ich davon ausgehe, dass der Wortlaut des Titels mit der gerade für Buddhisten gebotenen Achtsamkeit gewählt und von der DBU anerkannt wurde, so scheint mir die Frage nach dem Vorhandensein einer Seele seitens der DBU beantwortet zu sein. Jedenfalls sehe ich dann in diesem für das Verständnis der Buddhalehre fundamentalen Problem eine erfreuliche Übereinstimmung mit den Pudgalavadins des alten Indiens und der ehemaligen Altbuddhistischen Gemeinde. (9)


Weiteres  >Anatta ,  > Altbuddhistische Gemeinde.

Anmerkungen
(1)
Helmuth von Glasenapp, Die Philosophie der Inder, 3. Aufl., Suttgart 1974, S. 325.
(2) Ebd
(3) Ebd., S. 396.
(4) Die fünf Gruppen der Daseinsfaktoren (skandas) sind nach H. von Glasenapp (Ebd., S. 311): Sinnlich-körperliches (rupa), Empfindung (vedana), Unterscheidung der einzelnen Wahrnehmungen, Vorstellungen usw.  (sanjna), Triebkräfte (sanskara). 
(5) Edward Conze, Der Buddhismus, 5. Aufl., Stuttgart ... 1974, S. 161 f.
(6) M. Keller-Grimm / Max Hoppe (Br. Dhammapalo), Im Lichte des Meisters, Die Lehre des Buddha in Frage und Antwort, 3. Aufl., Hrsg.: Altbuddhistische Gemeinde e. V., Utting / Ammersee 1986, S. 20.
(7)  Georg Grimm, Die Lehre des Buddho, hrsg. von M. Keller-Grimm und Max Hoppe, dort: Vorrede von Max Hoppe, Wiesbaden / Wien 1979, S.XXII.
(8) Keller-Grimm / Hoppe, Im Lichte des Meisters, a. a. O., S. 125.
(9) S. Webseite der DBU > Archiv (03.12.2022).      

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